Das Zungenbein – Schlüssel zu Balance und Losgelassenheit

Bei einer osteopathischen Behandlung denkt man vielleicht zuerst an die größeren Strukturen wie das ISG, die Wirbelsäule oder den Schultertrageapparat. Doch auch die viel kleineren, feinen Strukturen im Körper sind enorm wichtig, können die größten Auswirkungen haben und sollten daher in einer osteopathischen Behandlung keinesfalls fehlen.

Ein gutes Beispiel dafür ist das Zungenbein.
Das Zungenbein ist ein knöchernes Konstrukt, das im Bereich des Unterkiefers zu finden ist. Wie der Name schon sagt, stützt und bewegt es die Zunge. Man könnte auch sagen, es ist ihr „Aufhängeapparat“.

Die Zunge spielt eine entscheidende Rolle für die Balance – bei Pferden genauso wie bei uns Menschen. Vielleicht kennst du das Bild eines Kindes, das hochkonzentriert auf einem Baumstamm balanciert und dabei unwillkürlich die Zunge herausstreckt oder an die Oberlippe legt. Pferde machen es ganz ähnlich: Das Zungenbein ist für sie ein zentraler Baustein für Feinkoordination, Losgelassenheit und Entspannung.

Im osteopathischen Sinn spielt das Zungenbein eine enorme Rolle, denn es steht über Muskel- und Faszienketten in engem Zusammenspiel mit vielen anderen Körperbereichen.

Typische Anzeichen für ein blockiertes Zungenbein

Die Symptome eines blockierten Zungenbeins sind vielfältig und können sich in Rittigkeitsproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten äußern. Typische Anzeichen sind:

  • Schwierigkeiten in der Anlehnung

  • Steifheit und mangelnde Biegung, vor allem zu einer Seite

  • Verwerfen oder Einrollen gegen die Hand oder an der Longe

  • Veränderungen im Trink- und Essverhalten

  • Vermehrter Speichelfluss (das Pferd „schluckt nicht ab“)

  • Lahmheiten oder Taktfehler in der Vorhand

  • Zungenfehler wie Herausstrecken, Kauen auf der Zunge oder Zähneknirschen

Wie kann es nun sein, dass dieser kleine Knochen so große Auswirkungen auf den Körper hat? Schauen wir uns seine wichtigsten Verbindungen einmal genauer an.

Verbindung zwischen Zungenbein und Kreuzbein

Zwischen Zungenbein, Kiefer und Kreuzbein besteht eine enge funktionelle Verbindung – einerseits über Muskel- und Faszienzüge, die entlang der Wirbelsäule verlaufen, und andererseits über das craniosakrale System, das den Schädel und das Kreuzbein funktionell miteinander verbindet.

Ein dauerhaft blockiertes Zungenbein kann daher nicht nur lokale Beschwerden verursachen, sondern über kurz oder lang auch Blockaden im Kreuzdarmbeingelenk (ISG) auslösen.

Wie die meisten Reiter wissen, ist das ISG der Punkt, an dem der Schub und Schwung aus der Hinterhand auf die Wirbelsäule und weiter nach vorn übertragen wird – quasi wie eine Welle, die sich durch den Körper bewegt. Ist das ISG in seiner Beweglichkeit eingeschränkt, kann diese Kraftübertragung von der Hinterhand über den Beckenring zur Wirbelsäule nicht mehr richtig stattfinden.

Dies führt häufig zu weiteren Kompensationen: Das Hüftgelenk wird stärker belastet, was sich wiederum negativ auf das Knie auswirkt. In der Folge müssen Sprunggelenke und Fesselträger zusätzliche Arbeit leisten. So kann es passieren, dass ein Schaden am Fesselträger vorliegt und die eigentliche Ursache aber ganz am anderen Ende, nämlich vorn am Zungenbein, zu finden ist.

Natürlich kann es auch umgekehrt sein: Ein blockiertes ISG kann Spannungen bis zum Zungenbein weitergeben.

Zungenbein und Kehlkopf – Einfluss auf Atmung und Schlucken

Das Zungenbein ist über Muskeln und Faszien direkt mit dem Kehlkopf verbunden. Der Kehlkopf ist, einfach ausgedrückt, das „Tor zur Luftröhre“. Beim Schlucken verschließt er sich, damit kein Wasser oder Futter in die Atemwege gelangt. Außerdem ist er für die Stimmbildung verantwortlich.

Ist die Beweglichkeit des Zungenbeins dauerhaft eingeschränkt, kann auch die Funktion des Kehlkopfs gestört sein. Das führt häufig zu Problemen oder Schmerzen beim Schlucken: Betroffene Pferde vermeiden es, zu schlucken, weil die erhöhte Muskelspannung den Vorgang unangenehm oder sogar schmerzhaft macht. In der Folge trinken viele Pferde weniger, was langfristig zu Dehydrierung und Magenproblemen führen kann und absolut nicht zu unterschätzen ist. 

Zungenbein und Schulter – Auswirkungen auf die Vorhand

Eine weitere wichtige Verbindung besteht zwischen dem Zungenbein und der Schulter über den sogenannten Schulter-Zungenbein-Muskel (M. omohyoideus). Dieser Muskel verbindet das Zungenbein direkt mit dem Schulterblatt. Ist er dauerhaft verspannt – etwa durch eine zu harte Reiterhand – zieht er die Zunge nach hinten.

Das hat gleich mehrere Folgen:

Die natürliche Beweglichkeit der Zunge wird eingeschränkt, das Pferd verliert Balance und Losgelassenheit, und der Schluckakt wird behindert. Gleichzeitig wirkt sich die Spannung direkt auf das Schulterblatt aus. Solche Pferde zeigen häufig einen verkürzten Raumgriff, Taktfehler oder beginnen zu lahmen. Nicht selten ist dabei zu beobachten, dass sie vermehrt auf die Vorhand fallen, weil die natürliche Pufferfunktion der Vorhand gestört ist und das Pferd an Geschmeidigkeit verliert.

Fazit – Wenn das Zungenbein aus dem Gleichgewicht gerät

Ein blockiertes Zungenbein kann weitreichende Folgen haben. Es beeinflusst nicht nur die Beweglichkeit von Kiefer und Genick, sondern kann sich über die gesamte Wirbelsäule bis hin zum Kreuzbein auswirken. Auch Schluckbeschwerden, Verspannungen in der Schulter oder eine verminderte Losgelassenheit unter dem Sattel sind häufige Begleiterscheinungen.

Mögliche Ursachen für ein blockiertes Zungenbein sind:

  • eine zu harte oder unruhige Reiterhand

  • zu fest verschnallte Nasen- oder Sperriemen

  • unpassendes Gebiss oder zu starke Einwirkung über das Maul

  • Blockaden, die sich von hinten nach vorn fortsetzen (z. B. durch Fehltritt, Sturz oder blockiertes Kreuzbein)

  • Zahnprobleme oder Kiefergelenksblockaden

  • fehlerhafte Kopf-Hals-Haltung oder dauerhaftes Reiten „hinter der Senkrechten“, Rollkur o. ä.

Ein freies, locker schwingendes Zungenbein ist die Basis für Losgelassenheit, Balance und einen harmonischen Bewegungsablauf. Es sollte in jeder osteopathischen Behandlung Beachtung finden – und bei Bedarf fachmännisch gelöst werden.


Lies auch: Wie entsteht eine Blockade beim Pferd?

Literatur:

Ullrich, Aileen. (2023–2025). Ausbildungsskript zur ganzheitlich arbeitenden Pferdeosteopathie & Physiotherapie (internes Schulungsmaterial, unveröffentlicht).

Langen, B., & Schulte-Wien, B. (2013). Osteopathie für Pferde – Grundlagen und Praxis (3., aktualisierte u. erweiterte Aufl.). Sonntag/Thieme.

von Bismarck, Julie. Zusammenhänge im Pferd – Funktionsketten verstehen und behandeln.

Nickel, R., Schummer, A., & Seiferle, E. (2004). Lehrbuch der Anatomie der Haustiere, Band I: Bewegungsapparat. Parey Verlag.

Salomon, F.-V., Geyer, H., & Gille, U. (2015). Anatomie für die Tiermedizin. Georg Thieme Verlag.


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